Münchner Abendzeitung, 11.5.1989
Totentanz der Gefühle
Eine Regie-Entdeckung: Ivan Stanev mit Pinter/Müller im Pep

Eine Regie-Entdeckung gibt ihr München-Debüt: Der knapp dreißigjährige Bulgare Ivan Stanev inszenierte im Studiotheater im Neuperlacher Pep ein Harold-Pinter/Heiner-Müller-Projekt mit dem Titel „Betrogen / Gestern an einem sonnigen Nachmittag”. Das anspruchsvolle Unterfangen weist den jungen Regisseur als originäres Theatertalent aus, das Intellekt und Sinnlichkeit als Startrampe benutzt, um tradierte Interpretationsebenen in rasantem Gedankenflug zu überspringen.

Bereits letztes Jahr machte Ivan Stanev mit einer Heiner-Müller-/Büchner-Collage in Berlin auf sich aufmerksam. Der Koppelung Pinter/ Müller hat er das Poem „Engführung” von Paul Celan vorangestellt, als Wortfuge von drei Darstellern zelebriert, mit Jeanette Spassowa als jugendstiliger Klimt-Figur im Zentrum.

Übergangslos läutet ein Ansager mit blutverschmierter Maske (Alfred Weger) auf flacher Vorbühne Pinters Ehebruchskomödie „Betrogen” ein. Stanev verzichtet auf jede realistische Bühnenkonvention, läßt den Text scheinbar emotionslos sprechen. Stilisierte Bildarrangements' Masken und bewußte Brüche verleihen dem boulevardesken Dreieck verblüffende Komik und erbarmungslose Schärfe. Jeanette Spassowa zeigt als Emma bestechende Ausdrucksbreite, Hans Peter Trauschke spielt ihren Liebhaber Jerry als Dandy mit Goldmaske, Gunnar Petersen als Ehemann Robert wird in grotesken Kostümen (Carline Seiser) immer mehr zum Krüppel deformiert

Für Heiner Müllers Gedicht schließlich öffnet sich der Raum zum Environment. Der Text wird in Bruchstücke zersplittert, Sinnfetzen. Requisiten und Choreographie verbinden sich mit grausamem Witz, manchmal an Bob Wilsons Bilderwelten erinnernd. Ein hochartifizielles Ballett der Worte, ein makabrer Totentanz der Gefühle. Diese Aufführung macht den Weg nach Neuperlach zum Muß.

Gabriella Lorenz