Theater heute, 9/88
MULTI-MEDIA-MÜLLER
Heiner Müller- Werkschau in der Kulturstadt Europas Berlin

Vierter Eindruck, der nachhaltigste: eine (Studio-)Aufführung des bulgarischen Staatstheaters Sofia, Textfassung und Regie Ivan Stanev (es ist des jungen, hochstudierten Mannes vierte Inszenierung). Der Abend heißt <Die Wunde Woyzeck. Woyzeck. Bildbeschreibung» und ging auf der Bühne des Hebbeltheaters vor sich. Auf kleiner Tribüne saßen die knapp hundert Zuschauer, blickend auf einen Bühnensteg und ein japanisierendes Wandgestell dahinter (Bühne, Kostüme Warja Usanowa). Heiner Müllers Büchner-Preisrede «Die Wunde Woyzeck» (er)öffnet: «Immer noch rasiert Woyzeck seinen Hauptmann, ißt die verordneten Erbsen, quält mit der Dumpfheit seiner Liebe seine Marie, staatgeworden seine Bevölkerung, umstellt von Gespenstern...» und so fort bis zum «gemeinsamen Untergang im Frost der Entopie» (abgedruckt in «Theater heute» 1 1/85).

Die Männerfiguren stolpern als blinde Nußknacker slapstickhaft überein halb Dutzend Treppenstufen auf den Bühnensteg: Sie agieren auf ihm, vor ihm als biedermeierlich-kaspertheaterhaft kostümierte, gestisch ausfahrende grobstimmige Malträtanten mit der Gesichtsbemalung böser asiatischer Dämonen (Hauptmann, Tambourmajor, Doktor: Tanjti Marinow, Ivan Petruschinov, Prodan Nontschev) und Malträtierter: Woyzeck (Dimiter Ganev) im Wintermantel. mit Kopfbinde. hündisch gebückt und in wenigen Momenten zag zart mit Marie (Janet Spassowa) - welche als starrerschreckte, unterwürfige Geisha erscheint. schmerzhaft langsam sich bewegend. Eine höchst kunstvolle, blendend intellektuelle und kraftvoll zerstörerische Rummelplatzversion («Fronttheater», sagt der mit Benjamin und Adorno geistig ernährte, leises, präzises Deutsch sprechende Regisseur). In die Woyzeck-Szenen eingelegt: Hölderlins Gedicht «Mnemosyne»: «...nämlich unrecht./Wie Rosse, gehn die gefangenen Element und alten/ Gesetze der Erd...»

Dritter Teil: Heiner Müllers «Bildbeschreibung». Untergang und mörderische Auferstehung der Frau, wird vom Regisseur über Lautsprecher gelesen, indes die Frau (wiederum Janet Spassowa) in einem hieratisch-jugendstiligen Klimt-Kleid in der Tür des Wandgestells erscheint. stier und lieblich zugleich und lidschlaglos blickend und einmal nur, wieder ins Unaufhaltsame verlangsamt, die halbe Brust entblößend, indes der Mann (wieder Dimiter Ganev) als Clochard mit steifem Hut stumpf an ihr vorbeiblickt. Das Ende: ein beinewerfend gestampftes, geschmettertes, gegröhltes Soldatenlied der Männer, ein Rausschmeißer, der aber versandet, so daß Ute Spieler in den jetzt erleuchteten, leeren Zuschauerraum des Hebbeltheaters sich verkriechen. verlieren... Ende.

Henning Rischbieter